Seminar fuer Aesthetik Humboldt-Universitaet zu Berlin
Friedrich Kittler

HONIG DER SIRENEN : LOGOS DER MUSIK


Es tut gut, eine Stunde lang griechische Inseln und böhmische Dörfer erzählen 
zu dürfen.

Die Frage, die mich umtreibt, lautet, was oder wer Europa dazu vermocht hat, 
Musik und Mathematik, das Flüchtigste und das Bleibendste, so fest, nämlich 
technisch zu koppeln.

Die Antwort wäre wohl, fast wie bei Penelopeia, ein endloses Gewebe aus Re-
chenkünsten und Kriegerleichen - nichts für Vorträge. So sei denn gradheraus 
behauptet: Was immer neuzeitliche Analysis und Technik zusammen erwirkten, 
waren Taten von Zwergen, die nach Pascals Wort auf Schultern von Riesen hock-
ten. In vielen Kultursprachen, beileibe nicht nur indogermanischen, heißen 
Musik und Mathematik noch immer so, wie das Griechenland sie gerufen hat 
(West, xx; Koller, Musik, 9). Wenn wir Musik sagen, sagen wir Musen, wenn 
Schüler Mathe sagen, verballhornen sie mathesis, das Wissen. Ich rede also in 
einer der Muttersprachen, wie Rabelais oder Thomasius sie Europas hohen Schu-
len verstattet haben, von unser aller Muttersprache.


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Im ältesten Griechisch, 1450 vor Christus gesprochen und geschrieben, sind 
mousike und mathesis nicht bezeugt. Denn das minoische Linear B war eine Sil-
benschrift, die Gaben für Paläste oder Opfer für Totenstädte bloß auflistete. 
Überdauert haben die gebrannten Tafeln nur dank der Zerstörung jener soge-
nannten Paläste im Feuer und Schutt. Eine Inschrift aus Knossos auf Kreta, wo 
König Minos selber gethront haben soll, zeigt zwei eingeritzte Krüge, vor je-
dem Bild den senkrechten Ritz einer Eins und ganz links zwei Gruppen von Sil-
ben. Zahlzeichen und Amphoren waren kaum geborgen auch schon klar. Aber erst 
Turings Bletchley Park, die geheime Wiege aller Computer, entzifferte 1952 
auch die Schriftzeichen selbst als griechische Silben. Ihre erste Reihe mag 
(nicht von ungefähr nur ungefähr) wie pasiteoi meri geklungen haben, auf 
deutsch «allen Göttern Honig, 1 Krug», die zweite etwa wie dabi(n)tojo potnia 
meri, «des Labyrinthes Herrin Honig, 1 Krug». Mehr kann niemand sagen oder 
spenden. Die Göttin des verwunschenen Tanzes wiegt alle andern Götter auf.

Erst das zweitälteste Griechisch ist uns als Muttersprache überkommen. Wir 
wissen, was wir lesen. Der Grund liegt offenbar vor Augen: Ilias und Odyssee 
brauchen keine Bilder mehr für Krüge, keine Striche mehr für Zahlen. Die Bilder 
auf dem Schild des Achilleus und die Anzahl kretischer Städte, der Gesang der 
Sirenen und das Heulen aller Winde - nichts, was vierundzwanzig Buchstaben in 
zweimal vierundzwanzig Sängen uns nicht angeschrieben hätten. Kretas felsiger 
Rücken trägt hundert Städte, der Sirenen sind zwei, der Windrichtungen zwölf: 
sechs Söhne und sechs Töchter des Windes, die sechs ehrbare Liebeslager teilen 
(Od. X 11). Im Vokalalphabet Homers rufen sieben Selbstlaute mit ihren Dienern, 
acht Halblauten und neun Mitlauten (Plutarch, V 413), zusammen die Welt. Was 
wunder, daß Gesänge und nur sie uns Musik und Mathematik gewährt haben.

Odysseus wird zur Insel seiner Macht und ins Bett seiner Frau erst nach zwanzig
Jahren heimfinden. Zehn Jahre hat er vor Trojas Mauern gemordet und betrogen; 
also bannen ihn der Zorn eines Meergottes und die vielfältigen Lüste der Göttin-
nen zehn weitere Jahre auf Schiffe oder Inseln. Das ist jenes Erfahren im Wort-
sinn, das Krieger erst zu Helden macht, jenes langwierige Dulden oder Lernen 
eines Schicksals, das bei Homer mathein heißt. Viel später wird Aristoteles sei-
nen unehelichen Sohn Nikomachos und die eigene große Philosophie fragen, warum 
bartlosen Jünglingen zu Athen das Rechnen so leicht fällt, Befreundung mit Weis-
heit dagegen noch so schwer. Die Antwort: Mathematik sei abstrakt, Philosophie 
brauche die Erfahrung langen Lebens (Eth. Nic. VI 9). Alle Empirie oder Erfah-
rung rührt aber von peira, dem Wagnis des Helden. So ganz und gar hat mathesis, 
der Name für Lehren und Lernen, im Gang des Griechenlandes vom Morgen zum Abend 
seinen Sinn gedreht (Lohmann, Musike, 106 f.). So herzlich brauchen beide, unse-
re abstrakte Mathematik und unser altes Denken, währendes Gedenken jener Quelle, 
die bei Homer Muse heißt und nachmals Musik.

Dem Sänger naht nur eine Muse. Er ruft sie an, wann immer der Gesang neu anhebt,
wann immer treues Gedächtnis schwindet. Die Muse gibt nicht das Programm, die 
großen schicksalsbestimmten Bögen von Sterblichen und Unsterblichen. Das kennen 
wir alle von ungefähr. Die Muse waltet im Gegenteil (mit Rainer Maria Rilke), 
weil «die Wirklichkeiten langsam sind und unbeschreiblich ausführlich» (Werke, 
III 254; vgl. Snell, Geist 46). Nur darum singt Homers Muse ihrem Sänger nichts 
vor; sie macht ihn weitersingen, wenn die vielen Schiffe gegen Troia kaum mehr 
zu zählen sind. menin aeide thea - «den Zorn sing mir, Göttin» heißt also, daß 
Homers genaue Worte ihm so wenig eignen, wie sie Gaben der Muse bleiben. Ganz 
wie nachmals die Musik, die musischen Künste oder Wissensübungen freier Athener, 
das ptolemäische Museion zu Alexandreia und alles, was an Kunst- oder Technikmu-
seen auf musenverlassenem Grund noch so folgte.

Denn in Wahrheit gibt es viele Musen und Museen. Euripides nennt jeden Ort, wo 
Vögel zwitschern, ihr Museion (Oxford, s.v.). Nach Plutarch, der unter römischen 
Kaisern vom menschenleeren Griechenland redet, lagen Musenstätten dereinst über-
all, wo keine Stadt stand (De curios. 521 d). Also da wo eine Wiese blüht, ein 
Quell rinnt oder eine Pappel rauscht. Und nur weil es heute um Musik geht, nicht 
um Kinderzüchtung, reimen Sie musenverlassen und menschenleer bitte selber. Un-
ter der Pappel am Ilyssos, dem Bach der Rede vor Athen, ruft sogar Sokrates, un-
fruchtbar und musiklos, noch die Musen an, um über Stimme und Schrift, Redner 
und Leser zu reden.

Also sind die Musen Nymphen wie alle andern und Nymphen, das Wort sagt es, junge
Mädchen auf oder über der Schwelle zur Frau. Bräute wäre das deutsche Wort, das 
am wenigsten verriete. Nur hört Sokrates, von der einen Priesterin Diotima abge-
sehen, keinen Frauen mehr zu, sondern einem Daimon in eigener Brust, der ihm 
dann so schöne Gespräche mit jungen Männern eingibt. Daraus folgerte laut Nietz-
sche aber schon Platon «mit einer Unschuld, zu der man Grieche sein muß und 
nicht `Christ', daß es gar keine platonische Philosophie geben würde, wenn es 
nicht so schöne Jünglinge in Athen gäbe.»

Am Morgen Griechenlands ist alles anders. Den Helden und ihren Sängern geben
sich Nymphen zu hören und Musen zu singen. Odysseus selber erzählt vom drei-
zehnten Jahr seines Irrens und Duldens:

   Da sprach zu mir Kirke, die Herrin, in Worten:
   «So ist denn alles nun vollbracht, du aber höre,
   was ich dir sag, gemahnen wird dich noch ein Gott.
   Sirenen wirst du zuerst treffen, die alle Menschen
   zauberstreicheln, wie sie auch kommen.
   Wer unerfahren nahe käme und das Tönen hörte 
   der Sirenen, dem sind nicht Frau und kleine Kinder,
   wenn er dann heimkehrt, zur Seite und Lust, sondern 
   Sirenen bezaubern ihn mit hellem Sang
   sitzend in der Wiese, umher ein großer Hauf von
   Männerknochen faulend und Häute die rings schrumpfen.»

Keine Frage, die Sirenen sind Nymphen oder Musen. Das Riff, auf dem sie hau-
sen, ist zugleich eine Wiese voll Blumen und ein Mund voll hellem Gesang. Erst
seit Vergils lateinischer Hirtenliednachdichtung verkommen solche Orte aller
fünf Sinne zu sogenannten Topoi: locus amoenus oder Horrorfilm. Erst seit der
Herrin Kirke streiten Ohren und Nasen darum, welchen Wesens sie sind: Zauber-
klang aus Musen oder Wiesengrund unzähliger unbestatteter Kriegstoten. Denn 
den Helden auf Jasons Schiff, das laut Kirke lange vor Odysseus denselben 
Seeweg nahm (Od. XII 70), haben sie kein Haar gekrümmt; einer sprang über
Bord, schwamm los und fiel der Liebesgöttin selber in die Arme (Apoll. Bibl. 
I 9, 25).

Theodor W. Adorno, vormals Wiesengrund, nahm also nur Kirkes Lug aus dem
Mund, als er schon im Sirenensang die Dialektik musikalischer Aufklärung am
Werk hörte. Nicht umsonst nennt der Sänger Frauen, bei denen der Held sich
verliegt, also Kirke und Kalypso, aber auch nur sie, immer wieder Göttinnen, 
die dieselben Menschenworte haben wie er selbst. Kirke hat, heißt das, keine 
Kuhaugen wie Hera oder gar Götterworte wie Hermes, der Odysseus vor ihrer 
Zauberrute und Zauberkräutern durch eine zweifache Gabe bewahrt. Er schenkt 
ihm außer einer Pflanze, deren Zauber bislang die bloße Menschensprache ver-
barg, ihren Götternamen Moly (Od. X 305). In Göttersprache ist alles, was es 
ist und wie; es sagt sich im Erklingen selber. Moly leuchtet und duftet, wirkt 
und schmeckt nach ihm selbst. Wie die neueste Mathematik haben wir mit einer 
Sprache der Dinge zu rechnen, deren Worte allesamt «onomatopoetisch» wären 
(René Thom, Stabilité structurelle et morphogénèse, 125).

Im Sprechen und Begehren zwischen Kirke und Odysseus, den zwei Geschlechtern
unter einer Menschensprache, stehen dagegen jede List und Lüge frei. Darum ist
Kirke eine Herrin der Raubtiere, ganz wie die kretische Honiggöttin auf Amulet-
ten auch als Herrin der Tiere droht; darum besagen Kirkes drei rauhe Mitlaute 
k-r-k schlichtweg Raubvogelweibchen: die Falkin, wie sie zwischen Sonne und Mee-
resabgrund Beute macht. Kirkes Vater ist Helios, Perseis ihre Mutter. kirkos, 
der Falke, heißt ganz wie unser Lehnwort Kreis nach dem griechischen kuklos. 
Die Fastinsel dagegen, um die Kirke kreist, geht ohne jedes phönikische Knacken 
und Knirschen über die Lippen. Bei Homer fügt sich das Kap, das heutzutage 
Monte Circeo heißt, aus lauter Selbstlauten: zu Aiaia. Göttersprachen sprechen 
ohne Trug.

Nicht anders die Sirenen, 45 Seemeilen südlich vom Monte Circeo. Am Eingang des
Golfs von Salerno liegen neben einem hohen Kap drei Klippen aus Kalkstein: li
Galli. La Rotonda, Castelluccia und il Gallo lungo. Kirkes Ratschlag, auf den
Odysseus wie ihm geheißen gehört hat, gab einfach eine Seeroute: weithin offen-
bare Male, die dem Helden und seinen Gefährten das zeitraubende Segeln an allen 
Küsten Tyrrheniens entlang ersparen (Bradford, 139-141). Wie eine göttliche Bie-
ne nach dem Tanz ihrer Vorfliegerin von Blume zu Blume findet, so Odysseus von 
Norden nach Süden.  D a ß  Male da sind, wahrsagte Kirke also in Göttersprache; 
erst beim Sagen, w a s  sie sind, erlaubten ihr Menschenworte zu lügen (Lacan, 
xx). Schon daher erscheinen uns die Galli, wie ein englischer Dandy sie vom ele-
ganten Capri aus erfuhr und betrat. "Siren Land" von Norman Douglas erschien 
1911. 

Sirenenland ist über Wasser, was unter Wasser die Innenriffkanten tropischer
Korallenatolle sind: Schnittstelle homerischer Weltmächte. Feuer und Luft,
Wasser und Erde spielen auf engstem Raum ihr uraltes Spiel, das aber erst ein
Grieche, Empedokles von Akragas, dank griechischer Buchstaben und d. h. Ele-
mente als Walten aller vier Elemente anschreiben konnte. Auf Sireneninseln
befeinden und befreunden sich Sonne und Winde, Fels und Wellen. Sie sind zwar
"baumlos" und "glühend vor Hitze", aber so blumenübersät (Douglas, 50 - 52), wie 
Kirke sagte (Od. XII 159). Im Winter herrscht die Narzisse über Augen und Nasen, 
im Mai verschwindet der Boden unter einem vielfarbigen Teppich, als hätten alle 
Blumen Campaniens hier Zuflucht gesucht. So wörtlich Norman Douglas über sein 
albernes Ansinnen, ihre Flora zu schreiben. Wo doch die Galli ihre Blumen "jeden 
Monat wechseln" (Douglas 53).

Was wunder, daß von den Bergen über Positano her die Bienen und Wespen einflie-
gen; eine Art Holzwespen hieß griechisch seirenoi oder Sirenenmänner (Arist. HA 
623b11-13). Zu den Bienen und Waben finden hungrige Singvögel, von Schwalben al-
ler Art bis zur azurblauen Drossel. Eine Weise, Homers Sirenen nachmals in Ton-
krüge oder Vasenbilder zu formen, waren Wesen mit Frauenzügen und Frauenbrüsten, 
aber Flügeln anstelle der Arme. So finden endlich zu den Singvögeln noch hungri-
ge Raubvögel, von Mauerseglern und allgegenwärtigen Turmfalken (Douglas 118 f.) 
bis hin zu Kirke, die als Wanderfalkin aus ihrem Blau herniederstößt (Douglas 
52). Alle Nahrungsketten sind jedenfalls geschlossen. Zuerst eine tierische, 
klar, von Insekten über Sing- und Raubvögel (Douglas, 114-118) bis hinauf zum 
Herrn Odysseus, der ja nicht als Aas wie andere vor ihm faulen mag, sondern 
Fleisch in jeder Form. Dahinter aber auch eine schlichtere Kette aus Pflanzen: 
von Gräsern und Blumen bis zum wilden Honig, der ohne Herdfeuer mundet, weil 
alles Summen und Singen ihm verdankt bleibt (Lévi-Strauss, Vom Honig zur Asche).

   Die Taube stellt den Federkragen hoch,
   vom Gurren überfüllt, dehnt sich die Luft,
   der Entrich schreit, vom wilden Honig nimmt
   das ganze Land.
   (Bachmann, Erklär mir, Liebe; GW I 109)

Von Sonne leben Erde und Wasser, von Erde und Süßwasser die Blumen. Blüten und
Bienen geben Honig und Waben, vor lauter Sonnenhitze schmilzt das Bienenwachs,
der Held streicht es honigduftend über zweimal fünfzig dienende Ohren, vom rei-
nen gelben Honig kosten wird er selbst. Denn der Zucker aus beiderlei Indien, 
erstes Laster unserer Neuzeit, bleibt Griechen ganz verschont (vgl. Xenokrates, 
xx). Noch sammelt sich Welt, um Musen und Musiken ihre Weile zu geben, schatten-
los offenbar wie Delos, die unverborgen heilige Insel.

   Rasch kam das wohlgefugte Schiff zur Insel beider Sirenen,
   denn ein mühloser Fahrtwind trieb. Da mit einmal hörte der Wind auf,
   spiegelglatt windstill das Meer, die Woge legt' ein Daimon.

So mächtig stillt ein Daimon, der noch Nietzsches großen Mittag und mitternäch-
tigste Frage senden wird, zwei von vier Elementen: Luft und Meer. Daimon der
gestillten See ist aber Aphrodite selbst. Willst du das alles immer immer wie-
der? Die zwölf Kinder des Windes sinken auf ihre sechs Ehelager. Auf daß offen-
bar werde, wie Musen weilen, gehn alle Sinne auf. Kein Bienenwachs von der Welt 
könnte die tiefen Schallwellen des Meeres aus Menschenohren filtern, aber auch 
kein Sirenensang sein Branden übertönen. Das sinnlose Segel rollt vom Mast, die 
Gefährten rudern ihren Herrn auf Rufweite heran. Kein Nasenflügel bebt vor kei-
nem Menschenaas zurück. Kirke hat gelogen. galene, der blaue glatte Meeresspie-
gel, ist noch keine stoisch bloße Haltung, sondern das Geläut der Stille. Denn 
in der Blume des Mundes kommen Erde und Himmel zusammen. Auf griechisch, in mu-
sikalischen Hebungen und Senkungen der Stimmelodie, noch tausendmal mehr als in 
europäischen Sprachen, die ja nur Lautstärken aussteuern. Den ersten Vers beider 
Sirenen hören Sie daher bitte aus meinem abwesenden Griechisch, alle acht dann 
im Kauderwelsch unserer Schulen.

   DEUR' AG' ION POLUAIN' ODUSEU MEGA KUDOS ACHAION

Drei Rufe, drei Klänge, ohne Punkt und Komma. Aber «jetzt alle», wie in Gravi-
ty's Rainbow (Pynchon, 887):

   Auf, komm hierher, Odysseus vielumrätselt, großer Ruhm Achaias!
   Angelegt das Schiff, damit du unsre Stimme hörst.
   Noch nie fuhr hier wer im schwarzen Schiff vorüber
   eh' er honigsummend Stimm' aus unsern Mündern hörte,
   hat lieber volle Lust genossen und kehrt mehr wissend heim.
   Wir wissen dir alles, was in Troias weiter Ebene
   Troer und Argeier vom Begehr der Götter duldeten,
   wir wissen, was da wird auf vieles weidendem Erdgrund.

Die Sirenen seimen also wie Honig und summen wie Bienen, ihr letzter Halbvers
dankt der Erde, aus der sie selber geworden sind. Zugleich aber singen Sirenen
wie Bräute und wissen wie Musen. Noch dem Hirten Hesiodos werden Musen zu hö-
ren verheißen, was ist, was war und was wird. Nur die taubstumme Verdeutschung, 
der Adorno blindlings gehorchte, grenzte das Wissen der Sage auf ihre eigene, 
angeblich sagenhafte Vorzeit ein. «Lockung» der Sirenen sei «die des sich Ver-
lierens im Vergangenen» (Dialektik, Raubdruck, 46. Soll er doch in Mamas Amor-
bach [sic] odenwäldlerisch verrecken.). Odysseus dagegen weiß ganz ohne Kirkes 
Lug, daß im Sirenengesang die Göttersprache Zukunft weissagt (Od. XII 158 f.). 
Nicht umsonst ißt und trinkt die Nymphe Kalypso, die ihn sieben lange Jahr lang 
liebt, nur Ambrosia und Nektar der Götter: Honig und Honigwein (Roscher, Nektar 
und Ambrosia, 22-35).

Was Wunder, daß die weissagenden Musen auch schon wissen, wen sie unter wel-
chem Namen zu rufen haben. Der Held ist erwartet, seinen großen Ruhm umrätseln
Sagen und Sänge seit langem. Nur was beide Sirenen tun, wenn nicht Iasons Argo
oder Odysseus' letztes Schiff in Rufweite kommt, lassen die Sagen weit offen 
(vgl. aber Calasso, Hochzeit 89 f.). Sie bleiben dabei, was Männern im Dulden 
und Erfahren an mathesis zuteil worden ist. Sirenen wissen zudem, daß und wie 
Helden heimkehren werden: um ihre Lüste und Sänge reicher. Also ist jetzt 
hier, hier jetzt.

Auf, komm hierher, rufen die Sirenen, deur' ag' ion. Einfacher geht es nicht. 
Das hört, soweit ich lesen kann, kein einziger Gelehrter. Das rufen aber die 
Bräute bei den Griechen ganze Tage oder Nächte, wenn sie auf Nymphenwiesen ihre 
Chortänze aufführen und ins Chorlied einfallen. Pannychis sind die Feste, die
die ganze Nacht lang gehn (Soph. Ant. 1150). Das steht sogar geschrieben. Ein-
fach weil die alte attische Komödie nach kômos heißt, dem lärmend festlichen 
Umzug von Dorf zu Dorf (Koller, Musik, 200), hat sie den Ruf der zwei Sirenen 
unüberhörbar laut verstärkt.

   Íakchos! Íakchos!
   Komm hierher
   mit auf der Bachwiese tanzen
   im Festschwarm der Geweihten.
   Stampf auf, daß der Grund dröhnt,
   schlag uns mit dem Fuß den Takt
   zum lockenden Lusttanz,
   der sich reizend um dich schlingt. [...]
   Mit der Fackel leuchte voran,
   Seliger, führe
   uns zum Tanz geschürzte Jugend
   zur blumenduftenden Au. (frei nach Koller, Musik, 17 f.)

ia heißt Laut und Getön, iache Lärm oder Zuruf, Iakchos also der junge bärtige
Gott einfach als Gerufener, Eigenname hin und her. Blume und Wiese, Singen und 
Tanzen, Bräute und ein besungener Mann - wie schon die Sirenen dem Helden so 
wahr sagen, sind Feste im Griechenland diese ewige Wiederkehr von Mittagen oder 
Fackelnächten. Das heißt aber: es gibt Musen und Sirenen so schlichtweg wie Dio-
nysos, den sie als jeden Gerufenen rufen, oder Odysseus, dem sie seinen Eigen-
namen geben. Nur wir (außer einem nympholeptischen Romanhelden bei Nabokov) 
erkennen Nymphen unter falschen Namen oder toten Masken nicht wieder.

«Platons Vater opferte bei der Geburt seines Sohnes auf dem Hymettos den Musen
oder Nymphen» (Koller, Musik 23). Denn dieser Berg am Südostrand Athens - das
wußte noch Ingeborg Bachmann - gibt den besten Honig Attikas. Platons Gabe der 
Rede war also - das wußte noch Cicero - neben der Milch seiner Mutter dem Honig 
wilder Bienen verdankt. Derselbe Honig vergoren gibt aber Nektar oder Met. Des-
halb steht bei Plutarch, dem delphischen Priester, bis heute eine Erzählung aus 
dem dritten, seit William von Baskerville aber angeblich verkohlten Buch der 
"Poetik". Kein geringerer als Aristoteles bürgt also dafür, «daß auf der Insel 
Ios damals, als Neleus, der Sohn des Kodros, über die ionische Kolonie herrsch-
te, eines der einheimischen Dorfmädchen schwanger geworden ist von einem Mittän-
zer der Musen,» einem Daimon (Vita homeri 3/4). Ein Tanzfest in hoch geschürzten 
Röcken ohne jede Naht, wie Lykurgos' wölfisches Wirken sie Spartas Bräuten in 
ungeschriebener Satzung anbefahl (Plut. Comp. Lyc. et Num. III 3), wandelt irdi-
sche Bräute in Musen, was dann, dank allseits bekannter Attrappen und Masken 
nicht nur vorm Gesicht, angerufene Mittänzer manchen Herzschlag lang in Götter 
wandeln wird. 

Nur warum erzählt Aristoteles das alles in nackter Prosa, nicht im Kleid lyri-
scher Chorlieder oder epischer Hexameter? Die Antwort muß sein, auch wenn jene
Buchrolle längst Staub oder Asche ist. Poetik als Prosa waltet, weil alles auf
Ort und Zeit ankommt: diese bekannte Insel unter jenem bekannten Tyrannen, beim
Auszug erster Kolonisten. Homer ist zwar in Smyrna gestorben, der Stadt duften-
tender Myrrhen, aber auf Ios, der Insel duftender Veilchen gezeugt und geboren
(Plutarch, Bioi, XX). Das Dorfmädchen von Muse war seine Mutter, ihr Mittänzer
der unbekannte Vater (Koller, Musik 25). Homer, wenn er die Muse anrief, wußte
was er tat.

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Auf der Insel Samos, im selben nahen Osten Griechenlands, herrschte vormals ein
Tyrann namens Polykrates, den Schillerleser vielleicht noch dunkel, aber falsch 
erinnern. Denn wie Tyrannen so sind, ließ der vielmächtige Herr seine kleine In-
sel von modernsten Architekten und Wasserbauingenieuren rundumerneuern. Mathema-
tik lag daher schon in der Luft über Samos, als eine gewisse Parthenais von 
ihrem Mann Mnemarchos einen Sohn namens Pythagoras empfing. Mnemarchos besagt 
machtvolles Gedenken, nur folgerecht besagt Pythagoras öffentliches Sagen des 
Verborgenen, das an der Orakelstätte Delphi vom Python in seinem Erdschlund oder 
Muttermund zur Pythia auf ihrem Dreifuß duftet oder strömt. Nur Parthenais, im 
Deutsch unserer Kirchen und Ämter die unbefleckte Jungfrau, fällt aus solcher 
Namensvernunft. Also ersinnt der Neuplatoniker, den wir eben hören, eine Han-
delsreise nach Delphi, allwo Mnemarchos wie sonst nur noch bekehrte Christen 
seine eigene Frau ein halbes Jahrtausend vor Ostern umbenennt. Kaum nämlich hat 
Pythia, die selbstbewußtlose, aber weissagende Jungfrau und Muse, das unentbor-
gen Schwangere an Parthenais verspürt und kundgetan, gibt Mnemarchos seiner Frau 
den neuen Namen Pythais - nach dem klugen, aber marienverdächtigen Wink unsres 
Gewährsmannes also zugleich nach der Muse und dem ungeborenen, aber verheißenen 
Kind (Vita, 4-7). Ein Sohn, ohne es hören oder gar wissen zu können, heißt seine 
Mutter bei neuem Namen.

"Wenn man, wie wenig auch immer, an den Knoten rührt, der den Menschen mit dem
Signifikanten verknotet, ändert man seine Geschichte und das Geschick seines 
Seins." So Dr. med. Lacan, als wir ihm lauschten. Hören Sie das Wort heißen 
daher in jenem vollen Sinn, den Heidegger ihm wieder erstattet hat. Die Frage 
"Was heißt denken?" duldet eine einzige Antwort: Es. Wir heute tun einen klei-
nen Schritt weiter. Wer heißt sprechen? Sie.

Das Sein (Sie ahnen schon) entbirgt sich mehr und mehr. Auch auf der Halbinsel
Süditalien, also im fernen Westen Homers, ist vieles moderner als am frühen 
Mittag Kirkes und beider Sirenen. Um italische Ortsnamen wie Aiaia oder Sing-
sang aus Honigmündern überhaupt schreiben zu können, taugt keine Konsonanten-
schrift phönikischer Handelsschiffahrer, sondern nur Homers ionisches Vokal-
alphabet. Was Wunder, daß die Etrusker es von griechischen Kolonisten überneh-
men und an ihre dummen Wehrbauern weitergeben, die Römer. So wird aus Grie-
chenlands fernem Westen ein naher. Selber siedeln Achaier und Dorer allerdings
an südlicheren Gestaden, in Tarent oder Kroton, Elea oder Metapont, wo es Ro-
sen und Wein, Oliven und Honig in Fülle gibt. Aber nicht schon darum hieß
Unteritalien unter Griechen Megale Hellas, das große Griechenland; den Ruhm 
dieses Namens zog erst Pythagoras Lukaniens und Kampaniens Städten zu. «Denn 
Kolonien liebt und tapfer Vergessen der Geist.» (Hölderlin, Andenken)

Seine Jugend verbrachte Pythagoras in Ägypten mit alten Feldvermessern und in
Babylon mit noch älteren Sterndeutern. Nach einem kurzen traurigen Zwischen-
spiel daheim auf Samos landete er in der 62. Olympiade, also um 532 (Iambli-
chos, V.P. VIII 32), in Kroton am Golf von Tarent. Sein Schiff trug dem neuen
griechischen Westen also Ägyptens Geometrie und Babylons Arithmetik zu. Auf
dem Satz, daß die Summe der zwei Kathedenquadrate dem Quadrat über der Hypo-
thenuse gleicht, beruhen alle Rechtecke und Metriken, alle Volksschulen und
Wolkenkratzer dieser Erde. Bildung, lehrte Pythagoras, ist der einzige Tausch
zwischen Welkenden und Blühenden, bei dem beide Seiten gewinnen. Ihr Schönsein
können Eltern nicht Kindern weitergeben, ihr Amt müssen Bürger Jüngeren ab-
treten; paideia dagegen, die Weitergabe oder mathesis der Musen, bleibt im 
Schenken unverloren. 

Und so geschah es. Pythagoras war kaum in Kroton gelandet, als er einer Frau
seltsame Dinge auftrug. Ein Schüler des späten gebildeten Musensohns Kallima-
chos hat uns eine Geschichte überliefert, die auch größte Griechenkenner nur
als "Parodie" lesen (Burkert, Weisheit, 136, aber vgl. 139). Ich nicht.

"In Italien angekommen, habe Pythagoras unter der Erde ein Häuslein gebaut
und der Mutter geheißen, was immer so werde auf eine Wachstafel zu schreiben,
auch die Zeit anzumerken und ihm dann dies hinabzulassen, bis er wieder empor
steige. Das habe die Mutter getan. Pythagoras aber sei nach langer Zeit wieder
heraufgekommen, zum Skelett gemagert; er sei vor die Volksversammlung getreten
und habe gesagt, er komme aus der Unterwelt; und er las ihnen vor, was alles
so geworden war. Sie aber, umwedelt von seinen Worten, weinten und jammerten
und nannten Pythagoras was Göttliches, so daß sie ihm auch ihre Frauen über-
gaben, um Wissen von ihm zu empfangen" (Hermippos, FrGrHist, II 41f.).

Wer tapferes Vergessen liebt, schifft keine leibliche Mutter ein (Burkert, 
139). Alles geht um die Weitergabe von Wissen, im Wortlaut also um mathesis,
nicht um Rückkehr zum Mutterschoß. Anders als nachmals Platons Akademie oder
Europas Universitäten lehrt Pythagoras neben Schülern auch Schülerinnen. Daher
heißt die Frau, die er in jene Schülerwachstafel ritzen heißt, nicht seine
Mutter, sondern wie Pythais "die Mutter" selbst. Allen Griechen, die wußten,
zuerst also Weisen wie Epimenides und später bloßen Freunden der Weisheit,
wie Pythagoras sie wortschöpfend nannte, sind auf Schiffen oder Klippen, in
Träumen oder Höhlen wissende Frauen erschienen. Das unterscheidet die zwei 
Hirnhälften der Griechen wohl von den Völkern, deren Wissen ihnen zufiel. 
Frauenstimmen kamen nie zu Wort. Minos und Rhadamantys, Kretas zwei sogenann-
te Könige, stiegen nur darum zu Totenrichtern auf, weil sie immer schon als 
Mumien in riesigen Burglabyrinthen voller Honigtöpfe leibhaftig abwesten 
(Wunderlich), um ihren Untertanen Befehl und Urteil noch aus dem Tod zu 
sprechen (Jaynes).

Erst Odysseus verbrennt seine toten Gefährten bis auf die Asche, viel lieber
lauscht er in der Unterwelt vielen Frauenstimmen und in der Oberwelt beiden 
Sirenen. Von der Asche zum Honig. Fleisch und Knochen der Toten dürfen ver-
wesen, denn das Geripp der Mitlaute und das Fleisch der Selbstlaute stehen für
Anwesen selber. Die Göttin, der Odysseus gehorchte, hört konsonantisch auf
Kirke, vokalisch auf den Singsang Aiaia. Mnemarchos folgt einem Wink der träu-
menden Pythia, wenn er seine Frau um beider Sohn willen umbenennt; der Philo-
soph Sokrates tut dasselbe, wenn er einen delphischen Spruch, den allerdings
Pythia selber nicht befolgen kann, zum eigenen kleinen Daimon umbenennt. Der
weise Epimenides hört in seiner Höhle, die auch Kretas Gott selber gebiert und
begräbt, das Geheiß einer Göttin namens Unverborgenheit, er solle eben das
Wahre, das sie ihm alsogleich kund tun werde, siebenundfünfzig Jahre später
nach dem Erwachen in Orakelversen schreiben (Svenbro, Phrasikleia, xx).

Nur zwischen Pythagoras und Mutter sind Geschlechter und Medien vertauscht.
Einmal gehorcht nicht der letzte Weise oder erste Weisheitsfreund einem wei-
senden Frauenmund. Grad umgekehrt macht die Mutter, was Pythagoras sie heißt,
wobei der Wortlaut zudem machen und heißen ins eine Wort poiein zieht. Zum an-
dern gibt das Wachstäfelchen keine ewigen Wahrheiten oder Weisheiten, weder
die ungeschriebenen Satzungen der Götter noch die alphabetisch verbürgten von
Griechenstädten wie Kroton. Es merkt ta ginomena, was so geworden ist, mit
jedem Datum, ta sumbebekota, was so beihergespielt hat, ohne jede Dauer. Nur
daher kann Pythagoras, wenn er als neuer Odysseus halbtot von den Toten wie-
derkehrt, vom Allwissen beider Sirenen zehren und d. h. lesen. Die Bürger von
Kroton verehren ihn als Gott unter Sterblichen ja erst, wie er unbeschreiblich
vergeßlichen Tieren ihr unbeschreiblich ausführliches Gewordensein vorliest.
Ob das schlichter Betrug ist, wie Heraklit Pythagoras anschwärzen wird (B 129;
Burkert, 141), spielt keine Rolle. Aus einem Entwurf von Sohn und Mutter kom-
men Geworfene jedenfalls auf ihre Gegenwart zurück. Aus dem mundus, der etrus-
kischen Totenhöhle, die nachmals Römern und Christen bewohnte Welt besagen 
wird (Bachofen, xxx), ersteht ein kosmos in Buchstabenformen, wie Kadmos sie 
aus phoinikischen Purpurhandelsstädten nach Theben gebracht hat. Nur widmet 
das Griechenland erst fünf, dann sieben dieser Buchstaben zu Selbstlauten um. 
Soll doch verlauten, was die Bürger Krotons so reden. Erst das Griechenland 
merkt außer 24 gültigen Buchstaben noch drei veraltete (Heath, Greek Math. I 
32). Soll sich doch zählen und erzählen, an welchem Tag in welchem Monat es 
in Kroton ging. Das weiche löschbare Honigwachs trägt Lautzeichen und Zahl-
zeichen aus demselben Alphabet.


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Mein verehrter Lehrer Johannes Lohmann hat geschrieben, es sei das Einmalige
an der griechischen Mathematik, daß sie "nicht einmal echte Zahlzeichen be-
sitzt, sondern daß hier das 'Alphabet' zugleich (mit gewissen Modifikationen)
die Sprachlaute, die Zahlen und den Ton in der Musik bezeichnet" (Musiké und
Logos, 109). Pythagoras ist lange tot, das Haus, in dem er starb, ein unbe-
tretbarer Tempel der Großen Mutter Demeter geworden. Aber seine Schülerinnen 
und Schüler (in Wahrheit hießen sie Hörerinnen und Hörer) hüten im Herzen alle
Worte, die ihr Meister angeblich nie schrieb, sondern immer nur aussprach. 
Sicher hat Pythagoras geschrieben, was Gelehrte heut auch lehren mögen, aber 
immer nur in Sand: Er setzte kleine Steine, von denen unser großes Wort Kalkül 
stammt, zu arithmetischen Beweisen oder geometrischen Figuren zusammen. Sonst
hieße a²+b²=c² für ganze Zahlen wie Drei, Vier, Fünf kaum Satz des Pythagoras.
Drei Seile von drei, vier und fünf Ellen Länge spannen, am Nil wie Rhein, 
einen rechten Winkel auf dieser unbeschreiblich fraktalen Erde auf. Das be-
halten einige Schüler im Herzen, nicht alle, aber doch manche, die auch das 
nie wieder verlautete Geheiß aus der mütterlichen Höhle unvergessen haben. Es 
ist so kurz wie schwer: aufschreiben was da werden mag.

In der 96. Olympiade, um 400 vor Christus, starb Philoloas von Kroton, ein
Pythagorashörer in dritter oder vierter Wissensweitergabe (was wir Idioten
seit Gadamer, 1960, als "Tradition" umschreiben). Viele Jahre strichen schon
ins Land, da kam ein Schäfer am Grab vorbei und hörte es am hellichten Mittag 
aus der Tiefe singen. Der Hirt treuen Herzens eilte zu einem Schüler dessen, 
der 'dem Volk freund' hieß und umgekehrt, um zu verkünden, daß Lehrer niemals 
sterben. Das glauben leider alle, die wir Vorträge, Bücher und Vorlesungen
schenken. Eurytos aber, so hieß "der Hörer auf Philolaos", hatte am Daß des
Sangs noch nicht genug. Denn die Frage ti esti, was ist, warf erst Pythagoras 
auf (Iamblichos, V.P. XVIII 82). "Um aller Götter willen!" rief Eurytos, als
sollte die kretische Silbenschriftfolge pasiteoi endlich doch verlauten. Ge-
sungen, Hirt? "Und welche Harmonie?" (DK, Eurytos 1). Folge und Fuge der Töne 
walten je verborgener desto mächtiger (Heraklit, B 54). Erst indem Überlebende
wiederholen lernen, welche Harmonie da aus dem Hades kam, schreibt Musik sich 
an. Philolaos' Lehre, lang nach seinem Tod, kehrt am hellen Mittag wieder.

Harmoniai in der Mehrzahl, immer nur in der Mehrzahl, nannte Homer die Klam-
mern an Flößen oder zwischen Schiffsplanken (Lohmann, Musike 104). Wenn das
Schiff gut gefugt ist, gleitet es an Sirenenklippen vorbei. Seirenes kommt von
seire, dem Seil: Lockende Nymphen fesseln und binden also von allein, kein
Schiffstau muß den Helden noch an einen Mastbaum knoten. All solche mechane,
solche Mechanik oder List (Böhringer, Technologien xxx) war nur Kirkes Lug.
Wenn Odysseus auf Penelopeias Ehelager ein letztesmal die Sirenen erzählt,
ganz wie sie seine Heimkehr vorhergesagt haben, heißen sie helle Stimmen,
nicht mehr nicht weniger (Od. XXIII 326). Der Frauen und Männer sind viele, 
das weiß auch Penelopeia. Erst Gottfried von Straßburg wird Isolde von Irland 
als die eine Sirene rühmen, wie sie gleich dem Magnetstein am Grund hochmit-
telalterlicher Kompasse Barken um ihre Metallfugen bringt und damit versenkt
(ein weniger magnetisches Vorbild siehe in Isidor, Et. xxxx). Erst Philolaos 
prägt aus Homers vielen Fugen die eine Fuge oder Harmonie namens Oktave. Ganz 
wie ein Honigsang aus zwei Sirenenmündern träuft, fügt die Oktave ineins, was 
gegenwendig läuft wie frühe griechische Schriftzüge (Heraklit, B 51). Nur ist 
dieses Einende sogleich wieder Zwei: hier in Kroton oder Karlsruhe musikali-
scher Grundbegriff oder logos, da in Theben sterbliche Tochter von Liebe und 
Streit, Aphrodite und Ares. 

Denn Gründe, Mauern und Straßen von Städten gibt es erst als Hochzeitsgabe der
Musen (Kerényi, II 36). Die Sage schenkt Harmonia, das Götterkind, keinem an-
dern zur Gattin als Kadmos, dem Bringer der Zeichen; ein letztesmal singen und
tanzen neun Musen unter den Leuten von Theben; Apollon selbst, ihr Chortanz-
leiter, greift in die Leier. Dann verlassen uns die Unsterblichen, um ihre 
jüngste Sage zu schenken (Lohmann, Musike 51), die eben darum die älteste 
Weisheit geblieben sein wird: Hochzeitspaarung von Musik und Schrift (Calasso, 
411).

Pythagoras hat uns gelehrt, im Wort kosmos oder auch Kadmos nicht mehr nur 
den Schmuck der Frauen oder die Waffe der Männer zu hören, sondern das fremde
Ganze, das uns in Schmuck und Fug angeht. Sein Schüler Philolaos von Kroton
lernt daraus, daß harmonia oder die Fugung zur Welt ein liebender Streit ist.
Sicher, ha estô hupárchei, "die Sein liegt vor", also noch nicht 'das Sein' -
weniger oder mehr kann niemand schreiben (B 2, vgl. Burkert, 238). Aber es
gibt zu zählen: viele grenzend Seiende und viele grenzenlos Seiende machen 
Welt aus. Die grenzenden "- man verzeihe" Walter Burkert "den Hinweis" und
mir das Zitat - walten auch "in der obszönen Bedeutung von perainein" (Bur-
kert, 32), die grenzenlosen einmal mehr in Frauen. Die einen sind als ungrade
Zahlen seiend, ihre erste heißt Drei, die andern als gerade, ihre erste heißt
Zwei. Und Ungrade ficken die Graden.

So zieht Philolaos lange vor George Spencer-Brown ins Feld der Zahlen einen 
Strich, einen Unterschied, der jede ganze Zahl außer Eins erfaßt, die Nichtzahl
am Ursprung selber. Die graden ins Töpfchen, die ungraden ins Kröpfchen, hätte 
unser schlichtes Aschelputtel gezählt. Aber Philolaos ist kein Märchen aus dem 
Mittelalter, sondern griechischer Ursprung und d. h. Herr aller Zahlentheorie 
bis heute. Babylon und Ägypten, Kreta und wir haben Zahlen und Zahlzeichen 
immer nur zum Messen verschlissen, niemals als Verhältnisse stehen lassen, um 
sie zu ordnen (Lohmann, Musike 11; Horovitz, Analogie, 12). Seit Simon Stevin, 
Meisterdenker des Aufstands der Niederlande gegen Spaniens Krone, die Zahlen-
reihe mit Null zu beginnen begann und mit Eins schon wieder abschloß (da ja 
zwischen Null und Eins unendlich viele Sandkörner seien), ist unsere Musik ein 
wohltemperiertes Klavier. Bei jedem Tastenanschlag Bachs empfangen die Baum-
nymphen eine Wunde. Ekklesia heißt nicht mehr Volksversammlung wie in Kroton, 
sondern protestantische Kirche, Abend bei Hof, Konzertsaal reicher Leute oder 
globale Rock Show. Faites vos jeux. Nur wird fast alles, was Sie hören werden, 
ob U-oder E-Musik, alle zwölf Halbtonschritte gleichmachen, im Nacheinander 
der Zeit wie im Übereinander eines Raumes, der erst seit Notre-Dame de Pa-
ris Polyphonien verströmt. Jedenfalls ist das einzige Intervall, das wir hören 
und anerkennen, das Irrationale und damit für Griechenohren das Alogische sel-
ber: Stevins Dezimalziffer Zwei Komma Null hoch 0.08333 undsoweiter undsowei-
ter. Im Meer aus reellen Zahlen gehen Sängerinnen und Hörer zugrund.

   Bin ich's, so ist's ein jeder, der ist soviel wie ich.
   Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehn.
   Zugrund - das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder. [...]

                       Und irrt euch hundertmal,
   wie ich mich irrte und Proben nicht bestand,
   doch hab ich sie bestanden, ein um das andre Mal.
   Wie Böhmen sie bestand und eines schönes Tags
   ans Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt.
   (Bachmann, GW I 167 f.)

Irrfahrten einer Sängerin, die es ins 20. Jahrhundert der Rundfunkredaktionen
und Radioschlager verschlug, aber die bestand. Homers Sirenen stürzen nicht
wie nachmals in den Wassertod, bloß weil Helden weiterfahren. Kroton aber
grenzt seit je ans Meer. Einen Hörer auf Pythagoras, der die heiligen logoi
verriet oder gar aufschrieb, soll ob solcher Frevel das Meer verschlungen ha-
ben. Also heißt den Griechen seit Philolaos nur das Grenzende Zahl, mit dem
Grenzenlosen von Brandungswellen wird erst Leibniz rechnen. Ihre Arithmetik
bleibt daher rein, aber die arme Geometrie muß mit irrationalen Verhältnissen
kämpfen, also mit hölzernen Esen. Denn im Grenzenlosen von Meeren oder Frauen,
heißt es, walten Lug und Trug. So leimt Kirkes italischer Lug großgriechische
Denker. So ordnet Philolaos die Töne und Saiten einer Leier, die kein Gott 
mehr rührt. Ordnungen sind Ordinalzahlen, keine schwindelnden Tänze im Körper 
|R3. Philolaos schreibt in den Sand wie weiland sein Meister, ein Dreieck aus 
lauter Steinchen.
 
                                o
                               o o
                              o o o
                             o o o o 	

Die Eins in ihrem Adel herrscht oben im Scheitel, es folgt eine Zeile weiter un-
ten die erste grade Zahl, noch eine Zeile weiter die erste ungrade, während die 
Vier am Grund das Dreieck vollendet. 1, 2, 3, 4 liegen vor, zusammen also Zehn, 
die heilige tetraktus, auf die Pythagoras' Hörer verschworen bleiben.  Dann tut 
Philolaos, soweit wir raten können, einen Schritt über den Meister hinaus. Er 
greift zur Leier, nimmt aber an Apollons heiligem Spielzeug sechs von sieben 
Schafsdarmsaiten ab (Od. XX1 xxx). Noch unsre zwei Worte Seil und Saite 
wachsen (allen rechten Winkeln und Rechtschreiberlassen zum Trotz) am selben 
Stamm wie seire, das Seil, und seirenes, die zwei Seilenden (Kluge, Deutsches 
etymologisches Wörterbuch, s.v. Seil).

Übrig also bleibt zuletzt (um über Mathematik weiter mit Aristoteles zu spre-
chen) eine abstrakte Sirene, die sich aber wie alle acht Därme der Leier spie-
len läßt. Sicher, man kann sie als eine zupfen, denn Streichinstrumente bleiben 
den Griechen fremd. Es klingen aber auch eine von zwei Hälften, zwei von drei 
Dritteln, drei von vier Vierteln. Das und nichts anderes ist der Kanon oder das 
Gesetz, nach dem alle Musik bis heute zu Wachs, Papier oder Compact Discs fin-
det. In harmonia, dem Gefüge, und arithmos, der Zahl, birgt sich, um Reihen zu 
ordnen, dieselbe alte Wurzel ar-. Im ungeteilten Fall schwingt die Saite im 
Grundton, im zweiten in der Oktave, im dritten in der Quinte, im letzten end-
lich in der Quarte. Bitte, vergeben Sie mir diese unguten Zahlworte aus Rom, 
dem Wehrbauerndorf durchgezählter Söhne, Soldaten, Monate und Intervalle. 

Philolaos weit hinter den sieben Hügeln hat tausendmal schöner geschrieben, aber 
auch tausendmal unübersetzbarer. Er braucht die gefundenen Tonverhältnisse nur 
mit seinen Dreieckszahlen zu vergleichen, um die Wahrheit in einem Nu an kleinen 
Steinen zu sehen und kleinen Saiten zu hören. Aus 2:1, 3:2, 4:3, drei Zahlenver-
hältnissen zwischen Frau und Mann, Gradem und Ungradem, Grenzenlosem und 
Grenzendem, aber auch nur aus diesen drein, rührt alle Harmonie des schön gefüg-
ten Kosmos (B 6). Und weil das Griechenland Lautzeichen, Rechenzeichen und 
Tonzeichen ja nicht wie Römer, Abendländer usw. trennt (Isidor, Et. III 20), 
fassen 24 Zeichen jede Tonfolge. Die Quarte als letztes schönes Verhältnis heißt 
nicht etwa 'der und jener Kringel auf Notenpapier', auch nicht 'Ziffer Vier, ma-
thematischer Bruchstrich, Ziffer Drei', sie  i s t  als die Fünfzeichenfolge 
delta kai gamma (Archytas, A 17), «vier und drei». So schlicht, so schön. Als 
unser Spätmittelalter Quarten nicht mehr hören mochte und seine vormals uner-
hörten Polyphonien lieber aus großen Terzen türmte, wären die Musen fast ver-
stummt. Aber weil Homer (Spätern leider nicht) alle Nymphen todlos heißen, heben 
seit Helmholtz und Debussy die Sirenen wieder an.

lógos in der Einzahl, auf deutsch die Lese, sammelt griechisch alles, was wir 
Abendländer scheu zu trennen suchen, aber nimmer doch vermögen: Gewesenes und
Kommendes, Sagen und Gesagtes, Zählen und Gezähltes, Gründe in den Sachen oder
Worten. lógoi in der Mehrzahl besagen dagegen seit Philolaos nur eins: Bezüge 
zwischen kleinen 'natürlichen' Zahlen. Denn die Null als kleinste positive oder 
größte negative Zahl, in den Nenner von Brüchen gesetzt, zerstört alle logoi und 
hat auf ihrem Weg von Indien über Bagdad nach Unteritalien einen neuen Anfang 
gesetzt. Philolaos, der lang vor Alexanders indischem Abenteuerfeldzug starb, 
blieb die Null erspart. Drum mag er singen, was immer Herz ihn heißt, vom Leben 
bis über den Tod, in vieles weidender Erde. Hirt hört zu; wenn nicht, erbitten 
Hörer oder Schüler, was Hirtenohren grad vernommen haben. Hütet um der Götter 
willen (pros theôn) die Harmonie und ihre logoi, wie Philolaos sie uns gab. 

Hirten des Seins weiden nicht Fleisch und Knochen, das tun Knochen und Fleisch
an Sterblichen schon selber. Nur der Zusammenfall von Name und Sache, Platons
vielumrätselte orthotes ton onomaton, vergibt Musik und Mathematik. Jede Mu-
sik, heute mehr denn je, ist ein Algorithmus, jeder Algorithmus eine mögliche 
Musik. Was den Griechen der logos als Form ihrer einmaligen Sprache, ist uns 
globalen Barbaren die Algebra als Formel unserer einmaligen Computer (Lohmann,
Musiké 108).

Lange bevor Philolaos Menschen Tiere hieß, die auf logoi, die Bezüge hören
(zoia logika, B 13), noch länger bevor einer den einen Menschen zum Tier be-
stimmte, dem logos als das Wort gehört, stieg auf der Insel Paros ein Tanzchor 
auf, der mich jäh enden heißt. Denn außer einem Sirenenruf haben Sie nur viele 
Wörter gehört. Gaben des Wortes sind aber Worte, die niemand schwarz auf weiß 
nach Hause trägt, geschweige denn auf deutsch. 

Also: echoh heißt (über alles Haben Kaufen Aktienhalten weit hinaus) ich fasse, 
halte fest; anthropous heißen zwei oder mehr Empfänger solcher Gaben; rhysmos 
ist eine Dialektform, der wir seit Hegel unsern Rhythmus nachgeredet haben. Das 
Insellied geht aber so:

RHYSMOS ANTHROPOUS ECHEI
fuge menschen hält 

(Heidegger, Zu den Inseln der Ägäis, GW 75, 262: immer immer wieder)


Seite zuletzt geändert am 10.01.2005