Durch die Zone.

Der Adlershofer Windkanal und andere Ortsbesichtigungen


von Peter Berz und Markus Krajewski, Juli 2000


Kurzfassung: die tageszeitung, Juli 2000.

Zu Robert Bramkamps Film, Prüfstand 7. Spiel-, Dokumentarfilm, 114 min, 2002, siehe auch:

Robert Bramkamp/Olga Fedianina (Hg.), Prüfstand 7. Das Buch zum Film

(MassMedia vol. 12), Berlin 2002.





Von diesen Stätten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind!



Als in der taz vom 26. September 1995 Helmut Höge der Vereinigung von Raketenwissenschaft Ost und West nachspürte, da ragte auf dem inzwischen vergilbten Zeitungsausschnitt dem Leser das Photo eines riesigen, schwarzverdreckten Monsters aus Beton entgegen: der Große Windkanal der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt in Adlershof, erbaut im Jahre 1934 des zweiten nachchristlichen Jahrtausends. Seitdem ist die Welt schöner geworden mit jedem Tag. Die von Granatsplittern und MG-Salven pockennarbigen Gründerzeitfassaden sind bald alle zugespachtelt und seit einem Jahr erglänzt auch der Große Kanal ohne Bombenlöcher und ganz original in Silberfarbe getaucht. Die Sonnenstrahlung sollte keine ungewollten Winde, thermisches Rauschen im Kanal, erzeugen und darum reflektiert werden statt im Schwarz historischer Verwitterung absorbiert. So steht jetzt das Bauwerk aus vier im Rechteck zusammengemauerten, elliptischen Betonröhren von 5 mal 7 Metern Durchmesser nahe dem alten Flugfeld Johannisthal als Wahrzeichen einer neuen Wunderwelt WISTA, des Wissenschafts- und Wirtschaftsstandorts Berlin-Adlershof, als eifre er jenem Wahrzeichen der Stadt Göttingen in den 30er Jahren nach, dem Großen Windkanal, von Flugzeugpiloten als Orientierung geschätzt und von alliierten Bombern sicher nicht verachtet.


Durchs Innere des, so der Jargon, "geschlossenen Kanals mit kontinuierlichen Umlauf" von Adlershof werden heute keine Windströme mehr geführt, sondern Besucher. Sie betreten den Kanal durch ein zum Eingang umgebautes Bombenloch und stehen in der Röhre, einer hallenden Halle ohne ebenen Boden: Strömungen und Wirbelbildungen der Luft finden im dreidimensionalen Raum statt (was ihre Erforschung zu einer äußerst rechenintensiven Wissenschaft macht). Prinzip des Kanals ist, ein umgedrehtes, stillgestelltes Flugzeug zu sein. Geschwindigkeit im Stillstand. Die Besucher zwängen sich also in den Ecken, an denen der Wind im rechten Winkel umgelenkt wird, durch in Serie nebeneinander stehende Steuerruder hindurch, sie sehen den zerfetzten Stahl und zerspaltene Sperrholzlammellen einiger Ruder. Sie sehen nicht mehr die riesigen Propeller und Gebläsemotoren, die den Windstrom erzeugten. Doch insgesamt ist der Kanal intakt und sauber gefegt: ein durch allen Weltkriegsschutt integer gebliebener und gemachter Körper aus sieben Zentimeter dickem Beton. Nachdem die Rote Armee den Kanal 1945 entkernt hatte, alle Ventilatoren und Meßanlagen abgebaut und -transportiert, schlug eben darum die Stunde der "Unentwegten". Während die Aerodynmamiker aus Adlershof, die im Westen gelandet waren, ihre Forschungen wiederbelebten, dachten die im Osten gebliebenen materialistischer: Wiederinbetriebnahme des Großen Windkanals. Ein "Wissenschaftlich-technisches Büro für Kraftmotorenbau" gutachtet seit 1953 bei Ministerrat und Akademie der Wissenschaften der DDR für Windkanal-Untersuchungen, vor allem an Kraftfahrzeugen, sprich: den durch die Sachsenkurve fliegenden Trabanten des realen Sozialismus. Mit Siemens, Westberlin, wird über ein neues Gebläse verhandelt und da Röhrentechnik nicht Selbstzweck ist, täte sich, so die Forscher, auch für Untersuchungen über das Strömungsverhalten von russischem Erdgas in den Trassen der GASPROM ein weites Feld auf. Doch der Sturm der Ideen verpufft. Im September 1960 wird das Herzstück der Anlage, die "Meßhalle", zu beiden Seiten zugemauert und "die Beton-Luftführung des Kanals für Lagerzwecke freigegeben."


Derzeit lagern dort vor allem Mythen und die alten Strömungstechniker aus Adlershof fanden sich in einer "Gesellschaft zur Bewahrung von Stätten deutscher Luftfahrtgeschichte e.V." zusammen, mit dem hohen Ziel, den "Heimat- und Fluggedanken zu befördern". Sie erwirkte die Sanierung des Windkanals und seine Eintragung als "Technisches Denkmal". Doch die Ambitionen gehen weiter. Der Windkanal (und das noch unerschlossene Windei aus Beton, der sogenannte "Trudelturm") soll Mittelpunkt von Adlershofer Zukunft werden, die sich zeitgeistverweht in Parks ausbreitet. Der Große Windkanal als Zentrum eines "aerodynamischen Parks" im dynamischen Wissenschaftsstandort Adlershof: Welche Zukunft welcher Vergangenheit spukt durch die Gegenwart hochglanzbroschierter Visionen?








Wissenspolitik


Der erste Windkanal in Deutschland steht als kleiner, lärmender Klinkerbau am Stadtrand von Göttingen, 1905 entworfen, erbaut und geleitet vom Vater der deutschen Aerodynamik, Ludwig Prandtl. Hier entsteht die Anordnung von geschlossenem Umlauf, Umlenkung, Modell, Modellwaage und Meßraum, der auch noch der Große Windkanal von Adlershof folgt. In Göttingen werden Modelle von Luftschiffen, Tragflächen und Propellern gemessen; ein spektakuläres Seitenprodukt ist das berühmte "Tropfenauto" der Firma Rumpler. 1912 bekommt die Göttinger Versuchsanstalt Konkurrenz aus Berlin. Die Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt, Adlershof (DVL), ist Teil der mächtigen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und betreibt Staatsforschung: neben Grundlagenfragen vor allem technische Prüfung und Genehmigung von Flugzeugteilen. Der erste Windkanal der DVL von 1913 hat einen Meßquerschnitt von 80 Zentimetern und operiert mit Windgeschwindigkeiten von 50 Metern pro Sekunde.


Um nach dem Ersten Weltkrieg unter dem Verbot aller motorisierten Fliegerei wegzutauchen, nimmt die deutsche Luftfahrt den nahliegenden Ausweg: Fliegen ohne Motor, Segelflug also, auf allen Hügeln, Tälern und Winden, in Dutzenden von Gleitflugwettbewerben zwischen zahllosen, aus dem Boden schießenden Segelflugvereinen. "The Glider Crazy”: das sind die Golden Twenties der deutschen Aerodynamik. Denn wo nur Luft ist und kein Motor, da wird aus Fliegen reine Aerodynamik. Das erste Flugzeug der Welt mit freitragenden, nicht verstrebten, einfachen, nicht doppelten Tragflächen startet 1922 auf der Wasserkuppe in der Rhön. Es ist direkt aus Aerodynamik konstruiert. Doch auch der schönste Segelflug ist experimentell nur begrenzt auswertbar und darum sucht die Aerodynamik nach neuen epistemischen Quellen, Göttingen strebt nach größeren Kanälen, Adlershof nach noch größeren. Weltwirtschaftskrise und Versailles schrumpfen die Ressourcen und darum dümpelt, im Gegensatz zu Theorie und Segelflug, das aerodynamische Experiment in der deutschen Luftfahrt um 1930 so vor sich hin.1


Das ändert sich ab Januar 1933 schlagartig. "Die Bewegung" hat die Macht ergriffen. Mit institutionsgeschichtlicher Schallgeschwindigkeit mobilisiert sie sämtliche traditionellen Einrichtungen der Luftfahrtforschung. 2,5 Millionen Reichsmark für einen neuen Kanal in Göttingen – soviel wie der Anstalt während der gesamten zehn Jahre zuvor zur Verfügung stand. Der DVL Adlershof werden schon im Oktober 1933 5,4 Millionen, im Dezember 1934 15 Millionen, bis Kriegsbeginn insgesamt über 28 Millionen bewilligt, bei einer Erhöhung der Mitarbeiterzahl von 450 auf 2000. "Die Dynamik der Luftrüstung überrollte selbst die Planungsfachleute des Reichluftfahrministeriums." (wie Helmuth Trischler es in seiner unschätzbaren Studie Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland 1900 bis 1970 schreibt). 1934 wird als erster Akt der Große Windkanal eingeweiht, für Winde mit 65 Metern pro Sekunde und Modelle von viereinhalb Metern Spannweite. Die Presse assistiert mit einem "Stakkato ästhetizistischer Superlative: 'Schönheit der Technik, stählerne Romantik – Metropolis'".


Doch eins können alle gigantischen Förderungssummen nicht verdecken: Der institutionelle, geographische und physikalisch-technische Ort eines Windkanals mit 8 Metern Durchmesser und 65 m/s (oder 0,2 Mach), betrieben von einer traditionellen Großforschungsinstitution am Rande der Reichshauptstadt, ist seit spätestens 1935 ein Auslaufmodell. Nationalsozialistische Wissensmobilisierung folgt drei Gesetzen, in denen die DVL Adlershof samt Großem Windkanal strukturell verschwindet: Erstens Dezentralisierung. Die alten Zentren sind nicht mehr expansionsfähig, sie sind in den Weichbildern von Städten angesiedelt und darum aus eben der Luft, die sie erforschen, angreifbar. Zweitens: Anlehnung der Forschung an existierende oder zu entwickelnde regionale Luftfahrt-Industrien, das heißt: regionale Industriepolitik. Drittens: Neugründung von Institutionen, die nicht auf staatliche Lenkung, sondern die Autonomie einer Scientific Community bauen.


Im März 1935 wird Reichsluftfahrtminister Hermann Göring, Hausherr jenes endlos selbstähnlichen Bürotraums Ecke Leipziger/Wilhelmstraße, alias Haus der Ministerien, Treuhand, Finanzministerium, die Existenz einer deutschen Luftwaffe verkünden. Boden und folgenreichster Output der neuen Luftmacht ist ein seit 1935 explosionsartig expandierendes Forschungs-Imperium für Luftfahrt, das alle anderen Forschungsinstitutionen des Reichs überholen wird oder schlucken. Seine institutionelle Krönung ist wissenspolitisch spektakulär. Am 6. April 1936 hält der talentierte Organisator und Leiter der Forschungsabteilung im Reichsluftfahrtministerium, der Philosophensohn Adolf Baeumker, Vortrag bei seinem Chef, um ihm einen unkonventionellen Vorschlag zu unterbreiten: die Gründung einer "Akademie für Luftfahrtforschung" in der Tradition der ehrwürdigsten Akademien Europas. Um Göring zu überzeugen, spricht Baeumker weniger über Luftfahrt als über Geschichte. Er referiert die weichenstellende Rolle der Fürsten bei Gründung der alten Akademien und zeigt "photokopierte Urkunden und Erlasse über die Ausstattung der Akademien durch die Landesherrn". Göring ist begeistert. Er möchte sofort in die Fußstapfen des Großen Kurfürsten treten, "Domänen und sonstigen Besitz" zur Verfügung stellen und bereits im Juli ist der Welt erste Akademie für ausschließlich eine technische Wissenschaft gegründet. Sie soll weit über Baeumkers Vorstellungen hinaus nicht nur das Haupt aller existierenden Luftfahrtforschungseinrichtungen sein, sondern ein autonomes Gebilde: eine echte Akademie. Die 300-Jahr-Feiern der Preußisch-brandenburgischen Akademie der Wissenschaften hätten Grund, einmal auch diese ephemerste aller preußischen Akademien zu bedenken, deren Gründung eine Referenz auf den Kurfürsten als Wette des 20. Jahrhunderts ist: Wie mobilisiert man Wissen?


An den Infrastrukturen dieses Wissens wird schon weit vor Görings Inthronisation zum Akademiepräsidenten gearbeitet. Ein völlig neues Zentrum für Luftfahrforschung soll entstehen, neben dem sich Göttingen und Adlershof sehr bescheiden ausnehmen. Günstige Verkehrsverbindungen, Mittellage, eine nahe Technische Hochschule und Bedarf an industrieller Entwicklung der Region führen, nach dem Grundsatz der Dezentralisierung, auf ein vollständig im Wald verborgenes Gelände bei Völkenrode, nordwestlich von Braunschweig. Dort entsteht das größte Großforschungsprojekt, das das dritte Reich je verwirklichte. Zielvorgabe für die Deutsche Forschungsanstalt für Luftfahrt e.V (DFL): Strömungsforschung, Aerodynamik, Gasdynamik, vor allem also Grundlagenforschung. Die technischen Zielsetzungen im einzelnen sind ganz der nach Völkenrode zu verpflanzenden Scientific Community überlassen. Und die greift in andere Bereiche als der 0,2-Mach-Wind von Adlershof: Überschall und Überschallkanäle, Strahlantrieb und Prüfstände für 100 Tonnen Horizontalschub, verborgen in der Lüneburger Heide, Entwicklung von Pfeilflügel-Flugzeugen. Der Wissenschaftlerbedarf für die hochfliegenden Projekte ist enorm. Forscher müssen verteilt und umverteilt werden. Der österreichische Raketenwissenschaftler Eugen Sänger, der sich an der TH Charlottenburg habilitieren möchte, wird kurzerhand nach Völkenrode verschickt (1963 endlich bekommt er an der TU seinen Lehrstuhl, den ersten Lehrstuhl für Raumfahrttechnik), 198 andere Wissenschaftler nicht aus Indien angeworben, sondern abgezogen aus Adlershof.


Die DFL von Völkenrode steht in direkter Konkurrenz zu einer Luftfahrtforschungs-Einrichtung, die nicht in Görings Forschungsimperium fällt: der Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Die gesamte Raketenforschung fällt, nach Führerbefehl, in die ausschließliche Zuständigkeit des Heeres, nicht der Luftwaffe. Die Prinzipien Dezentralisierung und Autonomie einer Scientific Community tragen den Wissenschafts-Campus auf Usedom bevor in Völkenrode die erste Kiefer gefällt ist. Aerodynamische Daten für die Raketenforschung aber liegen von Anfang an in Überschallbereichen, jenseits von Mach 1. Der Windkanal von Peenemünde unterscheidet sich darum prinzipiell von Adlershofer Betonröhren: keine umlaufende Rennbahn für Winde, sondern Ansaugen von Außenluft in eine große Vakuumkugel; Modelle nicht im natürlichen Maßstab, sondern im Zentimeterbereich; keine Meßhalle, sondern die allerheiligste Meßkammer. Der "offene Freistrahlkanal für unterbrochenen Betrieb" arbeitet mit kurzen Meßzeiten, Geschwindigkeiten von 3 bis 4 Mach, das sind Winde mit 1000 Meter pro Sekunde, und einem Meßquerschnitt von 40 mal 40 Zentimeter. An ferngesteuerten Miniaturmodellen hinter Panzerglas werden Druck, Ablenkung, Stabilisierung in Winden jenseits der Schallmauer gemessen; vor allem aber werden die Luftveränderungen selbst, die Schockwellen, als sogenannte “Schlieren” sichtbar gemacht, vermessen, photographiert und schließlich gefilmt. Als die Protagonistin im Roman der Peenemünder Windkanalrechnerin Ruth Kraft “Insel ohne Leuchtfeuer” eines schönen Tages im Sommer 1943 für 10 Tage, die ihr das Leben retten, in den Großen Windkanal nach Adlershof geordert wird, um, während die britischen Bomber ihren Angriff auf Peenemünde fliegen, in Berlin einige Messungen zu begleiten, ist die erste Frage, die man ihr stellt: "‘Wie messen sie denn auf der Insel? Im Über- oder Unterschallbereich?‘ Eva hob die Schultern." Der Adlershofer Ingenieur ist beeindruckt von der Fähigkeit des Inselpersonals zur Geheimhaltung. Aus Gründen also dürfte über Adlershof in den 40er Jahren wenig brisantes, aerodynamisches Wissen gelaufen sein.


Während in Peenemünde und Nordhausen die ersten Raketen produziert werden, hört Görings Luftfahrtforschungs-Imperium nicht auf zu expandieren, in immer größere Dimensionen. Nach dem Aufbau der DFL in Völkenrode, der die Ministerialbürokratie in einen "Planungsrausch" versetzte, ist seit 1940 eine neue, noch größere Anlage geplant, dezentral im Mittelpunkt deutscher Luftfahrtindustrie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelegen: in Bayern. Die Luftfahrtforschungsanstalt München, LFM, bei Ottobrunn verschlingt bis Kriegsende fast alle Forschungsgelder des Reichsluftfahrtministeriums. Das auf der grünen Wiese unbegrenzt erweiterbare Gelände von Ottobrunn hat auch eine Außenstelle im Gebirge: im Ötztal. Dort, mit den großen Reserven an Wasserkraft sollen die Megakanäle der Zukunft entstehen, Antriebsleistung: 75.000 Kilowatt (Adlershof: 2000 KW). Bis 1945 ist das meiste nur Rohbau. "Wie ein unwirklicher Schatten lagen die Fragmente der gigantischen Anlage auf der rundherum noch unberührten Welt des Ötztals."










Drehort Kanal


Wo also die Ruinen einer 1000-jährigen Zukunft für kommende Dänikens nur im Entwurf, aus der Luft und am Rand sichtbar werden, wo sich unter der Permutation von Großbuchstaben – DVL DFL LFM – Nachkriegsstrukturen abzeichnen: bayerischer Reichtum als Ergebnis “regionaler Strukturpolitik” zwischen dezentralisierter Forschung, Aufschwung regionaler Zulieferindustrie und Zwangsarbeit (deren Massierung in großen Städten die Gefahr von Unruhen heraufbeschworen hätte) im System der Göringschen Luftrüstung – da werden die Ruinen des Zentrums bewohnbar für Mythen. Denn bevor der Große Windkanal von Adlershof je zur Drehscheibe eines aerodynamischen Parks geworden sein wird, avanciert er zum gesuchten Drehort. Peenemündes Windkanäle produzierten schon, als sie noch Usedomer Ferienluft einsaugten und Überschallwinde bliesen, Film. Die Ereignisse in der Meßkammer hinter dem Panzerglas wurden von einer großen Askania-Filmkamera aufgenommen. Abbildung und Beschreibung des Apparats veröffentlichte vor zwei Jahren der Sohn des deutschen Stummfilmschauspielers Paul Wegener. Peter P. Wegener arbeitete seit 1943 in der Peenemünder Windkanalgruppe und machte nach dem Krieg in Amerika Karriere als Spezialist für hypersonische Gasdynamik (jenseits von 10 Mach) und ihre Kanaele. 1998 schrieb Wegener ein Memoirenbuch “The Peenemünde Wind Tunnels”. Von den Windkanal-Takes aus Peenemünde sind einige erhalten. Sie liegen im Deutschen Museum, waren vor einigen Jahren in einem Feature des SWF zu sehen (Das braune Wunder, von Frank Haase und Friedrich Kittler) und werden binnen kurzem in einen Film des Babelsberger Regisseurs und Filmdozenten Robert Bramkamp eingewoben sein. Dessen vor zwei Jahren begonnenes Projekt Prüfstand VII erlebte vor einigen Tagen in der Filmhochschule Babelsberg am Griebnitzsee eine Voraufführung vor erlauchtem Publikum.


Bei 35 Grad im Schatten hatte sich eine Touristengruppe eingefunden, die nach dem Motto see Europe in three days zu ausgewählten Orten einer historischen Geographie reiste, die Thomas Pynchon kurz die “Zone” nennt. Die Reiseteilnehmer kamen aus Dänemark, Belgien, Deutschland, Tschechien und den USA, um einem Grenztourismus der besondern Art nachzugehen. Ihr Blick galt weniger den Ufern gegenüber der Filmhochschule, die ehemals Westberlin hießen, oder den einst realexistenten, heute kaum mehr vorhandenen Mauerresten. Das Gruppeninteresse folgte entlang historisch-technologischer Schallmauern Denkmälern und Helden: Wernher von Braun, Ruth Kraft, Fritz Lang, Hermann Oberth, Tyrone Slothrop. Die Reisenden, die sich vor zwei Jahren in Antwerpen auf einem Pynchons Enden der Parabel gewidmeten Kongreß zusammengefunden hatten, besuchten Schauplätze eines Romans und einer technischen Entwicklung: “der Rakete”. Vom Flughafen Frankfurt ging es zu den unterirdischen Montagehallen in Nordhausen/Harz über das Babelsberger Filmgelände, wo Fritz Lang 1929 die Frau im Mond produzierte, quer durch die Zone immer weiter zurück zum Ursprung nach Peenemünde auf Usedom. Doch bevor die Tour am darauffolgenden Tag in einer gemeinsamen Kutterfahrt zur Greifswalder Oie endete, stand als zweite Etappe die nachmittägliche Voraufführung von Robert Bramkamps in Arbeit befindlichem Film bevor.


Gezeigt wurden neben ausgewählten Spielfilmszenen die ersten drei “Kapitel” in Rohfassung. Eine hochverdichtete Mischung von Bildern, bestehend aus pynchoneigener Fiktion, Fakten und pynchoninspirierter eigener Erzählung schießen zum Genre Faction zusammen. Bianca, eine Tochter der Rakete - die Frau im Mond ? - ist auf der Suche nach ihrer Herkunft aus den Schwaden flüssigen Sauerstoffs im Ofen, dem Strahlantrieb der Rakete. In einer historischen Verschiebung oder Metonymie, aus der nur ein guter Plot werden kann, tanzt die Protagonistin zu Beginn des Films in der riesenhaft scheinenden Röhre des Großen Windkanals Adlershof den Schleiertanz. “Die Schlierenschatten tanzten” (Pynchon). Doch auf 40 x 40 Zentimeter, “so groß wie die Seite eine Boulevardzeitung”, tanzt sich, menschlich gesehen, schlecht. Die Wahrheit hier, an den Grenzen des Kinos, ist die Meßkurve. Biancas Suche nach ihrem Ursprung im unmenschlichen Reich der Physik muß darum mit der institutionellen und technischen Verschiebung von 4 auf 0,2 Mach, von der Insel in die Hauptstadt, im Ungetüm von Adlershof beginnen. Als die Autoren vor einigen Tagen den Großen Windkanal rekognoszierten, strömte mit ihnen eine junge Frau, so alt etwa wie Ruth Kraft 1944, durch die heilgen Hallen der "Luftführung". Sie war nicht zum Spaß hier. Mit teuerer, japanischer Kamera im Anschlag recherchierte sie im Auftrag von Disney Productions die locations für einen Science Fiction mit dem Titel Librium. Irgendwelche Details? "Nein. Weißt Du ..."


Im Bramkamps Film gerät die Protagonistin Bianca auf ihren Nachforschungen in ein weitverzweigtes Gewirr aus Fährten, Hinweisen, Stimmen, denen sie nachgehen muß, um die Kakophonie am Ende in ihre eigene Sphärenharmonie auflösen zu können. Zwischen die Spielfilm-Szenen, die einzelnen Episoden aus Pynchons Roman folgen und die kinematographische Struktur des Romans selbst offenbaren, ist immer wieder Dokumentarmaterial eingeschaltet. Erstmalig wurden aus den Tiefen der Weltkriegs-Archive Filmsequenzen gezogen, die zwei vom militärischen Chef Peenemündes, Walter Dornberger, ausführlich beschriebene Fehlstarts des Aggregat 4 auf dem berühmten Prüfstand VII zeigen. Wie seine Protagonistin hatte auch der Regisseur die Feuerprobe auf seine Recherchen zu bestehen. Das prinzipielle Mißtrauen des Autors Pynchon gegen eine filmische Adaption des Romans war zu überwinden. Es schlug erst in Zutrauen um, als Bramkamp nach monatelangen, vergeblichen Nachforschungen über eine von Pynchon brieflich genannte Person aus der Berliner Kunstszene, die angeblich alte Photos und technische Originalzeichnungen der Rakete von 1944 besitzen solle, resigniert nach New York schrieb, die Person sei nicht ausfindig zu machen. Pynchon antwortete postwendend, es sei ihm leider ein Schreibfehler unterlaufen, der Name des Gesuchten beginne mit groß “V” statt mit “K”. Gleichzeitig erhielt der Regisseur, der damit die Ernsthaftigkeit seiner Recherchen unter Beweis gestellt zu haben schien, Pynchons ”no objections” gegen die Verfilmung einzelner Romanepisoden.


Ein Höhepunkt von Bramkamps Film und Pynchons Buch spielt in der bekannten “Truman-Villa” am Ufer des Griebnitzsees, einige hundert Meter entfernt von der Filmhochschule an der Babelsberger Karl-Marx-Straße. Harry S. Trumans residierte in der Villa während der Potsdamer Konferenz und das Gebäude wird Kulisse einer großen Konferenz-Party, zu der die alliierte Generalität lädt. Ein alter BMW fährt vor, der letzte General der Roten Armee, Schauspieler Helmut Höge in blendend weißer Uniform entsteigt, der Schoßhund der Diva kläfft auf der Treppe, Micky Rooneys Beine und im Garten ein Verrückter, der nach Haschisch gräbt ... Die euro-amerikanische Zonen-Reisegruppe zum Ursprung der Parabel läßt die Gelegenheit natürlich nicht aus, von Faction zu Realgeographie zu wechseln und pilgert nach der Filmaufführung von Prüfstand VII am Griebnitzseeufer entlang. Doch die Facts schlagen zurück. Am Tag nach den Dreharbeiten an der Szene brannte aus mysteriösen Gründen die Villa beinahe vollständig aus.


Im Anblick des ruinierten Hauses, von der Hitze erschöpft und geplagt von der Sorge, die Abfahrt zum Raketenursprung zu verpassen, drängt der Reiseleiter zum Aufbruch. Das nächste Ziel, Greifswald, von wo am nächsten Tag die Kutterfahrt zur Insel Usedom und den Resten der Heeresversuchsanstalt Peenemünde Ost starten soll, will noch vor Einbruch der Dunkelheit erreicht sein. Auf der Insel, so war jüngst zu lesen, will sich ein berühmter Enkel der Aerodynamik, der italienische Designer Luigi Colani, gebürtiger Berliner mit Klarnamen Lutz, jetzt ein Denkmal setzen. Seine Produkte, deren dynamische Formen allesamt aus Colanis Erfahrung als Aerodynamik-Ingenieur stammen, sollen einst im Nachbarort von Peenemünde/Karlshagen, im geplanten Futurama Zinnowitz eine dauerhafte Heimstatt finden. “Wo ist der Krieg? Man muß schnell die Augen schließen, so stark ist die Sonnenstrahlung über dem hellen Sand, und dann hat man jedes Gefühl für die Richtung verloren. Aber das dauert nur Sekunden. Ans linke Ohr dröhnt es in regelmäßigen Abständen wie fernes Aufbrüllen. Etwa zweitausend Meter Luftlinie. Eva kennt diesen Ton. Der Windkanal ist in Tätigkeit. Die Tagschicht arbeitet.” (Ruth Kraft, Insel ohne Leuchtfeuer).

1 Näheres in: Peter Berz, Mach 1. In: Über Schall. Ernst Machs und Peter Salchers Geschoßfotografien (hg. Christoph Hoffmann und Peter Berz), Göttingen 2001, S. 381 - 453.